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Neuro-Entwicklungsstimulation im Schulalltag als Werkzeug für Inklusion

Primäre Reflexe sind ein zentraler Bestandteil der frühen kindlichen Entwicklung. Sie dienen dem Neugeborenen zum Überleben und aktivieren grundlegende Bewegungen, die das Gehirn später zur willentlichen Kontrolle des Körpers nutzt. Durch ihre Wirkung werden nach Neuro-Entwicklungsstimulation im Schulalltag als Werkzeug für Inklusionund nach höhere Hirnstrukturen aktiviert, die es dem Kind ermöglichen, visuelle und auditive Reize besser zu verarbeiten, Gleichgewicht und räumliche Orientierung wahrzunehmen, Motorik zu entwickeln sowie Hand-Auge-Koordination, Sprache und soziale Kommunikation zu fördern. Im ersten Lebensjahr – insbesondere zwischen dem 6. und 12. Monat – sollten diese Reflexe spontan gehemmt werden. Erfolgt dieser Prozess nicht, können die Reflexe auch im Vorschul- oder Schulalter weiterhin aktiv bleiben und die Lernfähigkeit, Konzentration, Selbstständigkeit und Integration in die Gemeinschaft negativ beeinflussen.


Typische Anzeichen persistierender ReflexeDazu zählen Gleichgewichtsstörungen, schwache grob- und feinmotorische Fertigkeiten, falsche Körperhaltung, koordinationsschwache Bewegungen, Probleme bei Aussprache, visuellem Folgen, Lesen und Schreiben, Hyperaktivität oder extreme Empfindlichkeit gegenüber Reizen. Häufig treten auch Bettnässen, Daumenlutschen, Raumorientierungsprobleme, Konzentrationsschwäche oder Überempfindlichkeit bei Veränderungen auf.


Im schulischen Umfeld werden meist die Symptome behandelt – etwa Lese- oder Verhaltensprobleme – statt die neuro­entwicklungsbedingte Ursache zu erkennen. Aber verfügen Kinder überhaupt über die neuro­entwicklungs­relevanten Grundlagen, um effektiv lernen zu können?



Persistierende Reflexe und ihr Einfluss auf Verhalten und Lernen

Das Kind wird mit sogenannten primären Reflexen geboren – genetisch vorprogrammierten, automatischen Bewegungsmustern, die dem Überleben dienen und zugleich das zentrale Nervensystem stimulieren. Im Laufe des ersten Lebensjahres sollten diese Reflexe durch Reifung höherer Hirnregionen zunehmend unterdrückt werden. Bleibt dieser Prozess aus, können sie auch im Schulalter aktiv bleiben und alltägliche Tätigkeiten wie Schreiben, Lesen, Konzentration, Sprache oder soziale Integration erheblich erschweren.



Tonisch-labyrinthischer Reflex (TLR)

Der TLR beeinflusst die grobmotorischen Fähigkeiten stark. Neugeborene kontrollieren ihre Bewegungen kaum bewusst – jede Kopfbewegung löst eine reflexartige Reaktion aus, den sogenannten holokinetischen Bewegungen (ganzer Körperbewegung). In den ersten Lebenswochen erlernen Kinder die Kontrolle über Nacken- und Nackenmuskeln. Anschließend erfolgt die Entwicklung der Muskelkontrolle in kraniokaudaler Richtung, also vom Kopf über Ober- und Unterkörper bis zu den Fersen. So entwickelt das Kind die Fähigkeit, Kopfpositionen zum Körper zu kontrollieren – grundlegend für Gleichgewicht, aufrechten Haltung und Koordination. Der TLR unterstützt genau diesen Entwicklungsprozess. Erst wenn das Kind gelernt hat, den Kopf zu kontrollieren, können Kopf- und Extremitätenbewegungen unabhängig und über der Körpermitte gekreuzt erfolgen („Kreuzbewegungen“). Es gilt zudem, den Kopf vorwärts und rückwärts zu bewegen, ohne dass dies reflexartige Extremitätenbewegungen auslöst.

Primäre Reflexe initiieren Bewegungen – und diese wiederholten Bewegungen stärken neuronale Verbindungen zwischen Körper und Gehirn; das Kind entwickelt Kontrolle über die Haltung, stärkt Kraft und Koordination und fördert Gleichgewicht, Mobilität, Sehen, Hören, Sprache, Lern- und Kommunikationsfähigkeit. Grobmotorische Fertigkeiten gelten als Grundlage vieler höherer Fähigkeiten, die zum Lernen und Verhalten beitragen. Für den Schuleinstieg muss ein Kind still sitzen können, sich konzentrieren, den Stift korrekt halten und gezielte Augenbewegungen ausführen können, um geschriebene Texte Zeile für Zeile flüssig zu verfolgen. Mit Grobmotorik hängt auch der Muskeltonus zusammen.


Typische Folgen persistierender TLR:

  • Fehlhaltungen mit muskulärer Dysbalance

  • Hypertonus (erhöhter Muskeltonus): z. B. Vermehrtes Gehen auf den Zehen, Hochziehen der Arme bei starken Emotionen

  • Hypotonus (erniedrigter Tonus): beim Lesen gepresste Sitzhaltung, abfallender Kopf, Kopfstützen, rundes Kreuz, Halsüberstreckung, Schulter- und Rumpffehlstellung

  • Eingeschränkte Atmung, schlechtere Sauerstoffversorgung des Gehirns → Konzentrationsschwäche

  • Instabile Körperhaltung beim Lesen oder Abschreiben, Erschöpfung im Unterricht, Unruhe, Bewegungsdrang, instabiles Sitzen

  • Häufiges „Wippen“ auf Stühlen, Sitzen auf den Fersen oder auf dem Stuhlrand


Asymmetrisch-tonischer Nackenreflex (ATNR)

Der ATNR aktiviert sich, wenn der Kopf zur Seite gedreht wird – auf der gegenüberliegenden Seite beugt sich Arm und Bein, auf der anderen Seite streckt es sich („Speerstellung“). Bei persistierendem ATNR agiert der Körper wie geteilt in zwei Hälften – rechts und links –, mit minimaler Zusammenarbeit. Querbewegungen über die Körpermitte fallen schwer. Ein Kind mit ATNR würde z. B. beim Ablegen eines Spielzeugs von der rechen Hand auf die linke Tischseite das Spielzeug zur Körpermitte führen, die Hände wechseln und dann mit der anderen Hand positionieren – anstatt direkt über die Mitte. Solche Kinder neigen dazu, nicht zu kriechen oder zu robben – wesentliche Bewegungen für Hand-Augen-Koordination und die vestibuläre Integration. Robben fördert auch die Myelinisierung des Corpus callosum und die interhemisphärische Zusammenarbeit.


Typische Folgen persistierender ATNR:

  • Probleme, die Körpermitte zu überqueren (z. B. Schreib- und Malbewegungen)

  • Knapper, krampfhafter Stifthalt – feinmotorische Beanspruchung

  • Augen­bewegungsinstabilität: Schwierigkeiten beim horizontalen Zeilenverfolgen → Leseschwierigkeiten

  • Überspringen anderer Entwicklungsstadien (z. B. Krabbeln, Robben)


Moro-Reflex

Der Moro- bzw. Umklammerungsreflex unterstützt im Uterus die Entwicklung der Atemreflexe, erleichtert die erste Atmung und reagiert auf drohendes Ersticken. Reiz wird doch Geräusche, Licht oder plötzliche Kopfbewegung ausgelöst – Kind schreckt, streckt sich und schreit, um die Aufmerksamkeit von Betreuenden zu wecken. Physiologisch sollte dieser Reflex zwischen dem 2. und 4. Lebensmonat gehemmt und durch den fortgeschritteneren Sturzreflex (Strauss-Reflex) ersetzt werden. Bei persistierendem Moro-Reflex reagiert das Kind überempfindlich auf Reize, bleibt in ständiger Alarmbereitschaft. Jeder Überraschungsreiz aktiviert den Moro-Reflex, verbunden mit Adrenalin- und Kortisolproduktion („Stresshormone“). Adrenalin fördert übermäßige Aktivität, Aggression, Kontrollbedürfnis. Kortisol reguliert den Blutzucker – ein niedriger Blutzuckerspiegel kann irrationales Verhalten auslösen.


Typische Symptome persistierenden Moro-Reflexes:

  • Überempfindlichkeit auf Geräusche, Licht, Berührung, Bewegung

  • Hyperreagibilität, Panikreaktion

  • Schwierigkeiten beim Anpassen an Veränderungen (neues Umfeld, Regeln)

  • Geringe Frustrationstoleranz, impulsives Verhalten, starke Emotionen

  • Unruhige Augenbewegungen – verfolgt alles im peripheren Sichtfeld

  • Häufiges Abschweifen der Aufmerksamkeit – „sinnesintegrative Dysregulation“

  • Schlafstörungen oder nächtliches Aufwachen

  • Reizüberflutung im Klassenzimmer – Kinder wirken erschöpft oder reizüberempfindlich


Was ist Neuro-entwicklungsstimulation (NDS)?

Neuro-entwicklungs­stimulation (Neuro-Developmental Stimulation) ist ein ganzheitliches Konzept, das verschiedene Ansätze kombiniert:

  1. Zielgerichtete Hemmung primärer Reflexe (u. a. TLR, ATNR, Moro)

  2. Förderung sensorischer Integration (Gleichgewicht, Berührung, Hören)

  3. Stärkung von Teilfunktionen (visuelle/auditive Wahrnehmung, Serialität, intermodale Verarbeitung)

  4. Einbindung physiotherapeutischer und entwicklungsorientierter Bewegungsübungen

  5. Zusammenarbeit mit Optometristen oder Augenärzten bei Bedarf


Das Programm orientiert sich an der natürlichen Entwicklungsreihenfolge (kraniokaudal – von Kopf zu Fuß). Die Basis bilden einfache, reflexähnliche Bewegungsübungen, die dem Gehirn eine zweite Chance geben, Körperkontrolle korrekt zu entwickeln.


Anwendungsformen:

  • Einzeltherapie: alle 6–8 Wochen – Eltern lernen Übungen, die täglich zu Hause durchgeführt werden

  • Gruppenform: ideal für Kitas und Schulanfängerklasse – Übungen sind leicht im Alltag integrierbar, inklusiv für alle Kinder


Vorteile:

  • Fördert Haltung, Aufmerksamkeit, Ausdauer

  • Stärkt das tiefe stabilisierende Muskelnetzwerk der Wirbelsäule

  • Funktioniert präventiv – ganze Gruppen nehmen teil, ohne Kinder auszugrenzen

  • Hilft auch Kindern, deren Probleme zunächst unbemerkt bleiben



NDS als Werkzeug für inklusive Bildung

Inklusive Bildung basiert auf dem Prinzip, dass alle Kinder – unabhängig von ihren Startbedingungen – das Recht auf gemeinsames Lernen im wohnortnahen Schulumfeld haben.


Neuro-entwicklungs­stimulation bietet ein konkretes Mittel, inklusives Lernen zu stärken, indem Grundlagen für schulisches Lernen und soziales Verhalten geschaffen werden. Sie vermindert die Zahl der Kinder, die spezielle Fördermaßnahmen benötigen, integriert alle Schülerinnen und Schüler, stärkt ihr Selbstvertrauen und verbessert das Lernklima in der Klasse.


Autor: PhDr. Marja Voleman, PhD.

Datum: 7. 7. 2025


Quelle:

VOLEMANOVÁ, M. (2017) Neuro-vývojová stimulace ve školní praxi jako nástroj k inkluzi. Integrace a inkluze ve školní praxi, ročník IV, číslo 9, květen 2017. ISSN 2336-1212

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