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Spezifische Lernstörungen: Wenn der Ursprung tiefer liegt

„Lernstörungen sind ein Sammelbegriff für eine heterogene Gruppe von Störungen, die sich durch deutliche Schwierigkeiten beim Erwerb und Gebrauch grundlegender Fähigkeiten wie Sprechen, Sprachverständnis, Lesen, Schreiben, mathematisches Denken oder Rechnen äußern. Diese Störungen sind dem betroffenen Individuum eigen und basieren auf einer Dysfunktion des zentralen Nervensystems. Auch wenn eine Lernstörung gleichzeitig mit anderen Behinderungen (z. B. Sinnesbeeinträchtigungen) oder mit ungünstigen Umwelteinflüssen (kulturelle Unterschiede, unzureichende oder ungeeignete Förderung) auftreten kann, ist sie keine direkte Folge solcher Einflüsse.“ (Matějček, 1995)


Die Begriffe spezifische Lernstörung, spezifische Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten oder spezifische Verhaltensstörung dienen als Oberkategorie für Einzeldiagnosen wie:

  • Dyslexie (Lesestörung)

  • Dysgrafie (Schreibstörung)

  • Dysorthografie (Rechtschreibstörung)

  • Dyskalkulie (Rechenstörung)

  • Dyspinxie (Störung bildnerischer Fähigkeiten)

  • Dyspraxie (Störung komplexer Handlungsfähigkeit, v. a. motorisch)

  • Dysmúsie (Störung musikalischer Fähigkeiten)


Die letzten drei – Dyspinxie, Dyspraxie und Dysmúsie – sind tschechische Spezifika und finden sich in internationalen Klassifikationen nur selten.


Allen Formen ist gemeinsam, dass sie einen individuellen Charakter haben und auf einer sogenannten Dysfunktion des zentralen Nervensystems beruhen.


Aus entwicklungsneurologischer Sicht beschreibt eine Dysfunktion eine noch nicht ausgereifte Funktion. Die Vorsilbe dys- im Begriff weist somit auf eine unzureichende oder fehlerhafte Entwicklung hin. Der zweite Teil des Begriffs benennt jeweils die konkret betroffene Fähigkeit.


Begriffsherkunft


  • Dyslexie: von lat. lego, legere = lesen → Lesestörung

  • Dysgrafie: von gr. graphō = schreiben → Schreibstörung

  • Dysorthografie: von orthos (richtig) + graphō → Rechtschreibstörung

  • Dyskalkulie: von lat. calculus = Rechenstein → Rechenstörung

  • Dyspinxie: von lat. pingo = malen → Störung zeichnerischer Fähigkeiten

  • Dysmúsie: von gr. mousa = Muse → Störung musikalischer Fähigkeiten

  • Dyspraxie: von gr. praxis = Handlung → motorische Koordinationsstörung


Diagnostik und Unterstützung (in der Tschechischen Republik)

In der Tschechischen Republik bildet die pädagogische Diagnostik an der Schule die Grundlage für Unterstützungsmaßnahmen der Stufe 1 (tzv. podpůrná opatření 1. stupně). Sie dient jedoch nicht der medizinischen Diagnosestellung, sondern dem Ziel, konkrete pädagogische Interventionen auf Basis der beobachteten Schwierigkeiten zu planen und umzusetzen.


Die offizielle Diagnose einer spezifischen Lernstörung (SPU) erfolgt durch eine pädagogisch-psychologische Beratungsstelle (Pedagogicko-psychologická poradna – PPP) oder ein Sonderpädagogisches Zentrum (Speciálně pedagogické centrum – SPC). Voraussetzung für die Diagnosestellung ist, dass bei dem betroffenen Kind anhaltende und erhebliche Lernschwierigkeiten bestehen, trotz bereits durchgeführter pädagogischer Unterstützung in der Grund- oder weiterführenden Schule.


Was ist wichtiger als eine Diagnose?

Wichtiger als die Diagnose allein ist die Identifikation der zugrundeliegenden Schwächen. In der Übersicht auf der Startseite (→ Baummodell) wird deutlich: Erst wenn man versteht, wo die Schwächen liegen, kann man gezielt fördern – und eine echte Verbesserung erwarten.


Wenn wir die Grundursachen angehen, gewinnen Kinder mehr Energie und Konzentration, um sich auf die tatsächlichen Lerninhalte zu fokussieren. Haben sie zusätzlich zu einer diagnostizierten Lernstörung auch noch persistierende frühkindliche Reflexe, sensorische Integrationsstörungen oder Schwächen in Teilfunktionen wie dem visuellen oder auditiven Wahrnehmen, wird die Belastung schnell zu groß.


Die Wurzeln: Frühkindliche Reflexe und sensorische Integration


Frühkindliche Reflexe

Frühkindliche Reflexe beeinflussen die psychomotorische Entwicklung des Kindes – also die Basis für alles Weitere. Wenn diese Reflexe nicht gehemmt wurden, können sie zu sehr vielfältigen Symptomen führen. Diese können sich zu einem Muster verdichten, das wie eine Lernstörung, eine Aufmerksamkeitsstörung (ADHS/ADD) oder sogar wie eine Autismus-Spektrum-Störung erscheint.


Sensorische Integration

Unsere Sinne arbeiten fast nie isoliert – sie interagieren miteinander. Die sogenannte sensorische Integration sorgt dafür, dass das Gehirn sensorische Reize aufnimmt, strukturiert und sinnvoll verwertet. Nur wenn diese Verarbeitung gut funktioniert, entsteht ein vollständiges, verständliches Bild der Welt.


Daraus ergeben sich weitere wichtige Grundlagen:


  1. Störungen des auditiven Wahrnehmens. Die auditive Analyse und Synthese von Sprache ist eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb der Schriftsprache. Kinder sollten in der Lage sein, feine Unterschiede in der Lautbildung zu hören – z. B. zwischen ähnlich klingenden Pseudowörtern wie kal und gal oder pit und bit.

    Auch die Unterscheidung zwischen harten und weichen Konsonanten (z. B. k vs. g, t vs. d) spielt eine Rolle. Wenn man dem Kind die Buchstaben B–A–L nennt, sollte es daraus das Wort „Ball“ zusammensetzen können. Vor dem Schuleintritt sollte ein Kind außerdem in der Lage sein, den ersten Laut eines gesprochenen Wortes zu identifizieren – idealerweise auch den letzten.

  2. Störungen der visuellen Wahrnehmung. Um zwischen b–d–p–q unterscheiden zu können, braucht es eine feine visuelle Differenzierung. Wichtig sind auch die Figur-Hintergrund-Wahrnehmung und die visuomotorische Koordination (Auge-Hand).

  3. Störungen der Raumorientierung. Räumliche Wahrnehmung ist abhängig von Sehen, Hören und Kinästhetik (Bewegung). Probleme in diesen Bereichen beeinträchtigen das räumliche Verständnis.

  4. Zeitliche Reihenfolge. Die Wahrnehmung zeitlicher Abfolgen ist grundlegend – nicht nur für Kinder, die Probleme mit der Unterscheidung von Vokallängen haben.


Interventionsprinzip

Förderung muss der Entwicklung folgen. Wenn ein Kind z. B. sowohl auditive Wahrnehmungsprobleme als auch persistierende frühkindliche Reflexe hat, muss zuerst an den Reflexen gearbeitet werden. Ohne diesen „Boden“ (reflektorische Reife, sensorische Integration) sind weitere Maßnahmen nur begrenzt wirksam.



Autorin: PhDr. Marja Voleman, PhD.

Veröffentlicht: 27.04.2022

Deutsche Übersetzung: 07.07.2025

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