Hochbegabte Kinder und primäre Reflexe
- Marja Volemanová
- 3. Juli
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Juli
Es mag überraschen, dass wir uns im Zusammenhang mit persistierenden primären Reflexen auch hochbegabten Kindern widmen. Denn schließlich scheinen hochbegabte Kinder doch alles mühelos zu meistern – oder etwa nicht?
So einfach ist das nicht. Hochbegabte Kinder verfügen zwar häufig über überdurchschnittliche Fähigkeiten und eine hohe Intelligenz, doch das bedeutet nicht, dass sie von neuroentwicklungsbedingten Herausforderungen – wie beispielsweise persistierenden primären Reflexen (auch bekannt als frühkindliche oder primitive Reflexe) – verschont bleiben.
Hochbegabung beschreibt Menschen mit außergewöhnlich hoher Intelligenz, vielfältigen überdurchschnittlichen Fähigkeiten und einer qualitativen Besonderheit der Denk- und Gehirnfunktion, die sich in unterschiedlicher Wahrnehmung, Erleben, Verständnis und Verhalten äußert (Stehlíková, 2016).
Der Psychologe Dalibor Špok beschreibt auf seiner Webseite die Persönlichkeitsmerkmale hochbegabter Menschen. Er unterteilt diese Merkmale in sechs Bereiche:
Übermäßige Erregbarkeit (Overexcitability) bestimmter Systeme, die verschiedene Arten von Reizen verarbeiten. Die Wahrnehmungs-, Informations- und Emotionsverarbeitungssysteme reagieren bei Hochbegabten empfindlicher und intensiver.
Hohe kognitive Fähigkeiten. Hochbegabte erzielen in Intelligenztests Spitzenwerte. Typisch sind für sie Schnelligkeit des Denkens, tiefgründige Analyse und die Fähigkeit, Probleme gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Divergenz und Nonkonformität. Hochbegabte kommen häufig mit originellen Lösungen und Meinungen. Aufgrund hoher moralischer Standards und eines tiefen Realitätsbewusstseins sind sie unabhängige und innovative Denker.
Hohe Sensitivität (Perzeptivität). Überdurchschnittliche Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen können zu außergewöhnlicher Kreativität, aber auch zu Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen, Kleidung oder Gerüchen führen.
Hohe Energie und Motivation. Hochbegabte Kinder verfügen über eine starke innere Motivation, manchmal sogar ein rasantes Tempo und ein großes Bedürfnis nach Veränderung und Herausforderungen. Routinetätigkeiten ermüden sie hingegen stark. Schwankungen zwischen Hyperfokus und Demotivation können mit Aufmerksamkeitsstörungen verwechselt werden.
Emotionale Sensitivität. Erhöhte emotionale Reaktivität kann soziale Schwierigkeiten verursachen, zum Beispiel in Situationen, in denen andere die Intensität des Erlebens nicht nachvollziehen oder unterschätzen.
Hochbegabung und Sensibilität des Nervensystems
Hochbegabte zeichnen sich also nicht nur durch intellektuelle Fähigkeiten aus, sondern auch durch eine spezifische Wahrnehmungsweise der Welt. Psychologen wie Dalibor Špok oder die Hochbegabungsexpertin Jana Stehlíková weisen auf das häufige Vorkommen der sogenannten „Übererregbarkeit“ (overexcitability) hin, die bereits vom polnischen Psychologen Kazimierz Dąbrowski beschrieben wurde. Diese betrifft nicht nur das Denken, sondern auch Emotionen, Reizwahrnehmung, Körperbewegung oder Vorstellungskraft.
An dieser Stelle stellt sich die Frage: Können diese Sensibilitätsmerkmale und innere Überforderung mit persistierenden primären Reflexen, wie zum Beispiel dem Moro-Reflex, zusammenhängen?
Reflexe, die sich in der frühen Entwicklung eigentlich schon zurückgebildet haben sollten, können bei manchen Kindern aktiv bleiben und deren sensorische Verarbeitung oder Emotionsregulation erschweren. Dies äußert sich äußerlich durch Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Lärm, Berührungen, häufige Müdigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten – Symptome, die auch bei hochbegabten Kindern beobachtet werden können.
Kompensation statt Unterstützung
Eines der größten Probleme bei hochbegabten Kindern ist ihre Fähigkeit, eigene Schwächen zu kompensieren. Dank ihrer hohen Intelligenz entwickeln sie häufig Strategien, um Schwierigkeiten zu umgehen. Nach außen wirken sie dann wie durchschnittliche Schüler, und es wird kaum beachtet, was „unter der Oberfläche“ passiert. So werden sie oft zu „verlorenen Schätzen“ unserer Gesellschaft (Smítková, 2017).
Das gilt besonders für sogenannte „doppelt außergewöhnliche Kinder“ – Kinder, die sowohl hochbegabt sind als auch eine spezifische Lernstörung, ADHS, ASS, Entwicklungsdysphasie oder eine andere Beeinträchtigung haben. Ihre schulischen Leistungen sind häufig ungleichmäßig, sie schließen Aufgaben oft nicht ab, haben Schwierigkeiten mit Zeitdruck und fürchten das Scheitern stark. Daher werden sie oft fälschlicherweise als Kinder mit durchschnittlichen Fähigkeiten eingestuft.
Wenn Hochbegabung Schwierigkeiten verdeckt
Persistierende primäre Reflexe können ein Faktor sein, der hochbegabte Kinder belastet, ohne dass es das Umfeld bemerkt. Solange sie schulische Anforderungen zumindest durchschnittlich erfüllen, denkt niemand daran, nach Entwicklungsproblemen zu suchen, die sie bremsen. Dabei ist Kompensation ein anstrengender und langfristig nicht haltbarer Prozess – besonders unter Stress, Krankheit oder Veränderungen.
Diese Kinder erleben „gute Tage“, an denen alles gelingt, und „schlechte Tage“, an denen sich ihre Schwierigkeiten voll zeigen. Das kann ihr Selbstvertrauen und ihre Motivation erheblich beeinträchtigen. Oft glauben sie, dass ihre Leistungen an guten Tagen nur Zufall oder „Betrug“ waren und sie nichts wert sind.
Gehirnentwicklung beginnt bei den Grundlagen
Auf den Zusammenhang zwischen frühkindlicher Entwicklung des Nervensystems, primären Reflexen und kognitivem Potenzial weist auch Ranko Rajović hin, Arzt, Neurowissenschaftler und Autor der NTC-Methode. Er betont, dass gesunde Entwicklung von Denken und Intelligenz bereits in der frühen Kindheit beginnt – und eine Schlüsselrolle dabei die Reifung des Gehirns spielt, einschließlich der Integration primärer Reflexe.
Wenn diese Reflexe persistieren, können sie das wahre Potenzial des Kindes dämpfen – das gilt auch für außergewöhnlich begabte Kinder.
Autor des Artikels: PhDr. Marja Voleman, PhD.
Datum der Veröffentlichung (auf Tschechisch) : 24.3.2025
Datum der Veröffentlichung (der deutschen Übersetzung) : 3.7.2025
Quellen:
Volemanova, M (2013 a 2019). Přetrvávající primární reflexy. Statenice: INVTS s.r.o.
Stehlíková, J. (2016). Nadané dítě a rozvoj jeho nadání. Praha: Portál.
Špok, D. (2018). Nadaní dospělí: Praktický průvodce životem s výjimečnými schopnostmi. www.daliborspok.cz
Smítková, M. (2017). Dvojí výjimečnost: Vysoký potenciál a specifické poruchy učení.
Silverman, L. K. (2008). Giftedness 101. New York: Springer Publishing.
Rajović, R. Jak rozvíjet inteligenci dítěte hrou: NTC metoda. Praha: Edika.
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