Primäre Reflexe bei Vorschulkindern
- Adam Klatovský
- 5. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Primäre (frühkindliche) Reflexe können bei Kindern zu einer schlechteren Bewegungskoordination, feinmotorischen Schwierigkeiten, Aussprachestörungen oder auch zu Konzentrationsproblemen führen. Wenn Sie – oder zum Beispiel die Erzieherin im Kindergarten – bemerken, dass Ihr Kind Unterstützung braucht, um gut auf die Schule vorbereitet zu sein, ist es sinnvoll zu überprüfen, ob primäre Reflexe noch aktiv sind.
Ein kleines Baby wird buchstäblich mit einer Vielzahl von Reizen überflutet, die sein Gehirn noch nicht ausreichend verarbeiten kann. Die primären Reflexe helfen dabei, angemessen auf diese Reize zu reagieren. Daher sind primäre Reflexe vor allem in den ersten sechs Lebensmonaten besonders gut auslösbar. Die motorische Entwicklung des Kindes hängt eng mit der Aktivität dieser Reflexe zusammen.
Das Baby reagiert auf Reize und soziale Interaktionen mit seiner Umwelt durch primäre Reflexe. Diese Reflexe stimulieren den Aufbau neuronaler Verbindungen im Gehirn, die Differenzierung von Nervenzellen und insbesondere die Verbindung zu höheren Gehirnzentren, welche später die Kontrolle über den Körper übernehmen. Die durch primäre Reflexe ausgelösten Bewegungen fördern somit die Entwicklung eines dichten neuronalen Netzwerks, das eine Verbindung zwischen verschiedenen Hirnregionen ermöglicht. Diese Vernetzungen sind entscheidend für spätere Lernprozesse, kommunikative Fähigkeiten, emotionale Bindungen und Motivation.
Mit der Reifung der höheren Gehirnzentren beginnen primäre Reflexe zu stören und müssen gehemmt (inhibiert) werden. Wenn sie bestehen bleiben, können sie die optimale neurologische Entwicklung behindern. Primäre Reflexe können dann sensorische Wahrnehmung, Gleichgewicht, Bewegungskoordination und Lernfähigkeit negativ beeinflussen. Eine Störung auch nur einer dieser Funktionen beeinträchtigt die anderen. Deshalb entwickeln sich Kinder mit persistierenden primären Reflexen oft verzögert und haben auch in der Schule Schwierigkeiten. Probleme durch persistierende Reflexe können bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Manche Erwachsene zeigen dadurch zum Beispiel eine geringe Stressresilienz im Alltag.
Im Vorschulalter zeigen sich häufig Koordinationsprobleme, Artikulationsstörungen und Schwächen in der Feinmotorik. Auch die Konzentrationsfähigkeit kann bereits auffällig eingeschränkt sein, obwohl ein Kind in diesem Alter noch keine 45 Minuten durchgehend konzentriert arbeiten muss.
Der tonische Labyrinthreflex (TLR) ist ein Reflex, der Veränderungen im Muskeltonus verursacht, wenn das Kind nach oben oder unten schaut. Wenn dieser Reflex bestehen bleibt, bewegt sich das Kind weiterhin „holokinetisch“, das bedeutet mit dem ganzen Körper. Wenn es nach unten schaut, verändert sich der Muskeltonus so, als würde es sich zu einer Kugel zusammenrollen – die Schultern ziehen nach vorne, Arme und Beine wollen sich beugen. Wenn es auf einem Bein steht, möchte es am liebsten auch das andere Bein beugen und muss sich sehr konzentrieren, um es gestreckt zu lassen.
Beim Arbeiten am Tisch fällt es Kindern mit diesem anhaltenden Reflex oft schwer, den Oberkörper aufrecht zu halten, und sie „lümmeln“ auf der Tischplatte. Sie stützen gerne den Kopf mit der Hand ab oder setzen sich auf ihre Fersen.
Dieser Reflex kann zwei Extreme verursachen. Meist verursacht er Hypotonie (niedriger Muskeltonus). Kinder haben ein vorgewölbtes Bäuchlein, schwache Bauchmuskeln, eine verstärkte Kyphose der Brustwirbelsäule (runder Rücken) und eine verstärkte Lordose der Lendenwirbelsäule. Wenn dieser Reflex jedoch stärker in Richtung Extension (Rückwärtsbewegung) erhalten bleibt, zeigen die Kinder Hypertonie (erhöhter Muskeltonus), ihre Muskeln fühlen sich fest an und sie tendieren dazu, auf Zehenspitzen zu laufen. Wenn sie sich freuen oder wütend sind, verstärkt sich die Muskelspannung noch und sie „trippeln“ auf Zehenspitzen und fuchteln möglicherweise zusätzlich mit den Armen.
Der Moro-Reflex ist ein Schreckreflex von Neugeborenen. Ein Neugeborenes kann noch nicht analysieren, ob ein Reiz gefährlich ist oder nicht. Daher wird der Moro-Reflex aus dem Hirnstamm ausgelöst (wie ein „Überlebensmodus“). Wenn dieser Reflex bestehen bleibt, kann er die Entwicklung des Gleichgewichts und der Koordination stören. Das führt zu einer schlechteren Bewegungskoordination, was sich besonders bei Ballspielen zeigt – die Kinder schließen oft die Augen, wenn sie versuchen, einen Ball zu fangen.
Bei der Aktivierung dieses Reflexes wird die Produktion von Adrenalin und Cortisol (sogenannte Stresshormone) stimuliert, was die Reaktivität und Sensibilität des Kindes erhöht. Das Kind kann überempfindlich auf (bestimmte) sensorische Reize reagieren und daher unangemessen auf sie antworten. Es gelingt ihm nicht, wichtige von unwichtigen Reizen zu unterscheiden – es nimmt alles gleich intensiv wahr. Zu viele Reize auf einmal zu verarbeiten ist eine Form von Stress, mit dem das Kind auf zwei Arten umgeht:
Entweder es wird ängstlich, zieht sich zurück, meidet Körperkontakt und scheint sich schwer anzupassen. Es wirkt wie ein Kind mit ADD (lieber gar nichts wahrnehmen als alles).
Oder es wird hyperaktiv, reizbar oder aggressiv. Es wirkt wie ein Kind mit ADHS (es muss den Stress „weglaufen“).
Chronischer Stress beeinflusst auch die Funktion der Drüsen und des Verdauungssystems und erhöht das Risiko für biochemische und ernährungsbedingte Ungleichgewichte. Außerdem treten häufig erhöhte Müdigkeit, geringe Ausdauer, Stimmungsschwankungen, Ängste, Schüchternheit, Konzentrationsprobleme und Hyperaktivität auf.
Ein persistierender Moro-Reflex kann die Kontrolle über Augenbewegungen beeinträchtigen. Die Augenbewegungen sind unruhig, flackernd, was die Informationsverarbeitung stört. Der Reflex kann zur Hypersensibilität gegenüber Licht-, Geräusch- und Temperatureinflüssen führen, die als bedrohlich empfunden werden. Die Kinder reagieren stark z. B. auf bellende Hunde oder das Geräusch eines Mixers. Der Moro-Reflex beeinflusst somit die gesamte psychische Verfassung des Kindes.
Ein weiterer primärer Reflex ist der Asymmetrisch-tonische Nackenreflex (ATNR). Er beeinflusst die Feinmotorik und die Zusammenarbeit der Gehirnhälften. Auch hier ist es wichtig, dass er zur richtigen Zeit gehemmt wird. Die Lateralität (Händigkeit) ist bei Kindern mit anhaltendem ATNR oft verzögert. Dies erkennt man daran, dass sich das Kind nicht entscheiden kann, ob es mit der rechten oder linken Hand schreiben oder zeichnen möchte. Wenn es ein Bild auf einem großen Blatt Papier zeichnet, benutzt es rechts die rechte Hand und wechselt dann zur linken Hand für die linke Seite. Der Griff des Stiftes ist oft verkrampft.
Die Zusammenarbeit der Gehirnhälften ist auch für die Sprache wichtig. An der Sprachproduktion sind mehrere Gehirnzentren beteiligt, die sehr schnell miteinander kommunizieren müssen.
Der Palmare Reflex ist ein taktiler Reflex. Das Tastempfinden in den Händen ist durch diesen Reflex verändert. Manche Kinder sind dadurch sehr empfindlich und mögen es nicht, wenn ihre Hände schmutzig sind. Sie spielen ungern mit Sand oder Fingerfarben. Bei anderen Kindern ist die Empfindlichkeit vermindert – sie suchen verstärkt sensorische Reize und experimentieren gern mit verschiedenen Texturen und Materialien. Solche Kinder spielen gern mit Sand oder auch mit Lebensmitteln.
Wenn die taktile Wahrnehmung in den Händen beeinträchtigt ist, besteht häufig eine neurologische Verbindung zwischen den Handzentren und den Mundzentren im Gehirn. Deshalb haben Kinder mit feinmotorischen Problemen oft auch Artikulationsprobleme – und umgekehrt.
Weitere taktile Reflexe sind der Saugreflex und der Suchreflex. Ein persistierender Saugreflex führt häufig zu Artikulationsproblemen. Die Zunge liegt zu weit vorn im Mund, was eine gezielte Zungenbewegung erschwert. Solche Kinder haben oft Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken, sie sabbern, zeigen eine unzureichende Koordination zwischen Atmung und Sprache und essen oft mit offenem Mund.
Kinder mit einem persistierenden Suchreflex benötigen häufig orale Stimulation. Sie haben das Bedürfnis, ständig etwas zu kauen oder zu saugen – etwa am Daumen, an den Haaren, Stiften oder Kleidungsstücken wie dem Kragen. Dadurch kann sich ein sogenannter „gotischer Gaumen“ entwickeln – ein sehr hoher und schmaler oberer Gaumen. Ein fortbestehender Saug- oder Suchreflex kann auch zu einer Abneigung gegen bestimmte Nahrungsmittel-Konsistenzen führen. Auch hier gilt: Was den Mund betrifft, wirkt sich meist auch auf die Hände aus – die Feinmotorik ist oft beeinträchtigt.
Primäre Reflexe haben somit einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. Im Kindergartenalter müssen Kinder noch nicht lange ruhig sitzen oder sich über längere Zeit konzentrieren. In der Schule hingegen nehmen die Anforderungen schnell zu. Kinder haben dort weniger Bewegung, wodurch sich Körperhaltungsschwächen schneller entwickeln. Viele Kinder können nicht still sitzen, stützen den Kopf mit der Hand, lümmeln auf dem Tisch, schaukeln oder setzen sich auf die Fersen.
Die Anforderungen an die Feinmotorik sind hoch (sie müssen schreiben lernen), was oft zu verkrampftem Stifthalten führt. Das Gehirn des Kindes wird überlastet, was entweder zu Hyperaktivität oder zu Konzentrationsverlust führt.
Wenn Sie also den Verdacht haben, dass bei Ihrem Kind noch primäre Reflexe aktiv sind, ist es sinnvoll, dies noch vor dem Schuleintritt mithilfe der Neuro-Entwicklungstherapie "NDS Active Learning®" , abzuklären und gegebenenfalls zu behandeln. Diese Methode wird von geschulten Logopäd:innen, Sonderpädagog:innen oder Erzieher:innen direkt im Kindergarten angeboten.
Autorin des Artikels:PhDr. Marja Voleman, PhD.
Veröffentlicht: 27.4.2022.
Deutsche Veröffentlichung: 5.7.2025.
Commentaires